Schon von weitem habe ich ihn kommen sehen, den Berg hoch und über die Bahngleise. Jetzt sitzt er vor mir auf der Bank der Zwischenstation „Romiti“, wenige Stationen unterhalb der Rigi. Gerade hat sich der alte, sehr bucklige Mann in den Finger gestochen. Er streift dann einen Blutstropfen auf den Teststreifen, steckt ihn in den kleinen Apparat und blickt gespannt auf die Anzeige des Blutzuckermessgeräts. Ach, wie vertraut ist mir dieser Prozess. Die Anzeige des Geräts gibt an: 6.5 mmol – ein perfekter Blutzuckerwert. Allerdings ein Wert, bei dem man sich Kohlenhydrate einverleiben sollte, wenn man weiterwandern will.
Ich wüsste gerne, was der alte Mann mit diesem Wert anfängt und spreche ihn an: „Und, was machen Sie jetzt?“ Er guckt mich an. „Ich bin auch Diabetiker, wissen Sie,“ erkläre ich ihm vertraulich. „Ich bin kein Diabetiker,“ antwortet mir da der alte Mann. Und ich weiss grad nicht, was ich sagen soll. Da steht die Schriftstellerin, die nun interessiert auch herangetreten ist, mir bei und fragt: „Warum messen Sie dann Ihren Blutzucker?“ – „Weil ich Chemiker bin!“ Mein Schiff ist versenkt, würde ich sagen.
Der wandernde Chemiker pflegt also sein mobiles Labor am Hang. „Wissen Sie,“ wahrscheinlich merkt er, wie verwirrt ich bin, und klärt mich auf, „ich bin 99 Jahre alt, und ich trinke jetzt dieses Wasser hier mit Traubenzucker.“ Verflixt. Der alte Mann hat’s faustdick – hab ich je meinen Traubenzucker in Wasser aufgelöst?
Bevor ich noch mehr von dem weisen Mann lernen kann, kommt die Rigibahn vom Berge herabgefahren und hält an. Die Schriftstellerin-Regisseurin-Schauspielerin verabschiedet sich vom alten Mann, ich auch, während der Wandersmann vom Lokführer herzlich begrüsst wird: „Hansjoerg, grüezi – wie geht’s Dir?“ Und auch der einzige Fahrgast in der Bergbahn freut sich und erklärt mir: „Hansjörg geht jede Woche die Rigi hoch. Über ihn wurde schon ein Film gedreht.“ Mir fehlen wiederum die Worte. Die Rigi hoch? Das sind 1414 Meter ab Vitznau. Ach, hört mir doch auf damit. https://www.srf.ch/sendungen/reporter/der-alte-mann-und-der-berg
Die Schriftstellerin lächelt: „Ich hab hier immer ganz besondere Begegnungen. Aber warum trinkt er jetzt Traubenzucker, wenn er gar kein Diabetiker ist?“ Ich kann nur vermuten, dass er sich trotzdem präventiv Energie zuführen will. Sie geniesst das Bilderbuchpanorama des Vierwaldstättersees vor ihr, während wir uns kurz unterhalten. Ich wähle meine Worte und Fragen mit Bedacht, will sie nicht nerven, schweige viel. Hier auf der gegenüberliegenden Zugbank diese bewundernswerte, erfolgreiche, schöne und distanzierte Frau. Weiter oben am Berg der alte Mann wie aus Grimm’s Märchen. Irgendwie passt das alles zusammen, weil es surreal ist: Und mit von der Partie bin ich. Durcheinandergewirbelt seit 24 Stunden, unterwegs ausserhalb meiner Komfortzone und mit wenig mehr ausgestattet als mit Intuition.