Unter den Augen der Madonnina
Der Fahrstuhl öffnet sich, und erst in diesem Moment wird mir bewusst, dass wir hoch oben sein müssen. Jetzt gehen wir ins Freie und betreten eine erste weisse Marmorterrasse. Zunächst im Schatten, laufen wir an vielen Türmchen und Figuren vorbei, die majestätisch in den Himmel ragen. Wir spazieren auf Marmor und blicken durch die Zacken und Verzierungen hindurch auf die sonnenbestrahlten Dächer der Metropole. In weiter Ferne, aber deutlich sichtbar, grüssen die schneebedeckten Gipfel der Alpen. Über uns strahlt der blaue Himmel in einer Intensität, wie sie nur bei klarer Luft entstehen kann: Der Frühling ist da in Mailand seit wenigen Tagen. Und heute gesellt er sich zu uns hier oben auf Santa Maria Nascente, dem bedeutendsten gotischen Bauwerk Italiens, dem Mailänder Dom!
Mein Weg hierher nach Mailand hat über Kanada geführt. Denn Sabine und Horst haben Claudia und mich im vergangenen Jahr eingeladen, als wir alle uns bei einer gemeinsamen Kanada-Reise kennengelernt haben. Horst ist Anwalt in Mailand, das Ehepaar lebt seit Jahrzehnten in der norditalienischen Metropole. Sie haben die Hamburgerin und die Deutsche aus Zürich in ihre Wahlheimat Mailand eingeladen, inklusive Logis in der wunderschönen Wohnung keine zehn Minuten vom Dom entfernt. Welch eine Gastfreundschaft!
Mit dem Mailänder Dom gibt’s ein Problem: Die Terrasse wackelt. Sie schwingt ganz fein nach rechts und links. Seltsam, dass nur ich es bemerke. Während ich hinter Sabine und Claudia her einmal rund um die Terrassenlandschaft laufe, fällt es mir erst wenig auf. Bloss, wenn ich zum Fotografieren stehen bleibe, merke ich das Vibrieren. "Gleich geht's hoch", höre ich Sabine sagen. "Wie, hoch?", antworte ich, nichts Gutes ahnend. Wir bewegen uns auf ein geschlossenes Treppenhaus zu. Von dort aus geht‘s wendeltreppenmässig weiter in die Höhe.
Konzentriert setze ich also einen Fuss, Stufe für Stufe, vor den andern. Ich atme tief durch. Nur nicht stehenbleiben, flüstert mir mein Unterbewusstsein zu. Und da! Wir bleiben stehen. Es entsteht ein Stau im engen Treppenhaus wegen des Gegenverkehrs. Ich atme vorsichtig aus … und es wackelt wieder. Alles wackelt auf dieser engen Wendeltreppe. Ich klammere mich an das Geländer. "Ich gehe zurück, Claudia", zische ich atemlos. "Bist Du sicher? Es sind nur noch wenige Stufen", motiviert mich die pragmatisch denkende Hamburgerin.
Kurz wäge ich mit klopfendem Herzen ab: Zurück - ggf. auf dem Hosenboden - und ganz sicher hyperventilierend die Wendeltreppe runter? Oder die letzten Meter irgendwie erklimmen und oben Kraft tanken? Claudias Zuspruch hat geholfen, ich mache weiter. Raus aus dem Wendeltreppenhaus, und es begrüsst uns eine Freitreppe mit nur einem Geländer hoch zur obersten Terrasse. Nicht stehen bleiben, nicht denken. Einfach weitergehen. Singen? Das hat mir auch schon geholfen.
Jedenfalls erreiche ich den Domgipfel unversehrt. Sabine hakt mich unter und geleitet mich zum ersten Mäuerchen hier oben auf der Terrasse. Erst mal hinsetzen und versuchen, den Wackelpudding in meinen Beinen zu verdrängen und die Herrschaft über meine Beine zurückzuerlangen. Das glückt recht schnell, so dass ich schon bald das bunte Treiben hier oben genüsslich beobachten kann. Foto-Shootings allüberall, ein jeder weiss, dass dieser blaue Himmel heute ein besonderes Geschenk ist. Und von ganz oben, über dem sich küssenden Pärchen, glänzt die Madonnina, die 4.16 Meter hohe goldene Statue, das Wahrzeichen Mailands.
Wir gehen in die prächtige Gallerie Vittorio Emanuele, in die Pasticceria Marchesi über dem Prada-Shop. Sabine zeigt uns dann ihr Mailand, die kleinen, gepflasterten Strassen hinter den Geschäftszentren, die Geheimtipps, die langsam erwachenden Viertel, die später, bei einsetzender Dunkelheit und der Beleuchtung, noch viel heimeliger aussehen werden. Wir besuchen Horst in der Kanzlei in einem prächtigen Altbau und gehen dann essen ins Navigli-Viertel, dem Mailand der Kanäle, in dem ich mich an Venedig erinnert fühle.
Und am nächsten Tag machen uns Sabine und Horst ein besonderes Geschenk: Wie alle ordentlichen Mailänder flüchten sie am Wochenende gerne aus der Stadt. Wohin? Nun, die Auswahl ist nicht klein: Comer See? Lago Maggiore? Gardasee? In der schönen Luxuslimousine entschweben wir heute in nördliche Richtung, fahren von der Autobahn ab und schlängeln uns gemächlich die engen und charmanten Strassen entlang des Lago di Como. Welch eine Pracht, welche Augenweide. Unser Ziel ist die Villa del Balbianello an der Spitze der Halbinsel Lavedo in Lenno.
Dort steht zunächst einmal die für mich schönste Eisdiele der Welt – mit Holzstühlen, die ich mir gerne in meine Wohnung stellen würde, mit Fenstern zum Comer See und mit einem Eis, das der Schönheit der Landschaft nicht nachsteht. Gestärkt schlendern wir den Spazierweg hin zum ehemaligen Franziskanerkloster, das von einem reichen, reichen Warenhausbesitzer umgestaltet wurde. Ein rechter Abenteurer war dieser Graf Guido Monzino, und so beheimatet die Villa auch das Museum seiner zahlreichen Polarexpeditionen. Der Garten verführt zu weiteren Foto-Momenten und verzückt seine Besucher. Eine Szene aus „Casino Royal“ muss hier gespielt haben. Wen wundert’s.
Zurück in Mailand machen wir am Abend die Bekanntschaft von „Risotto alla Milanese“ und schlendern heim, während die Madonnina gütig auf uns runterschaut. Und auch am nächsten Morgen, als unsere Gastgeber darauf bestehen, dass wir in der Vorreiterin aller Campari-Bars, der Bar Camparino zwischen Galleria und Piazza Duomo, einen Campari trinken - auch dann noch hat sie uns im Blick und ist sich des Zaubers dieses Milano-Wochenendes auf die Besucher aus Hamburg und Zürich wohl bewusst.
Kommentar schreiben