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Gute Frauen in Wollishofen

Sommerfest im Entlisberg

 

Eine vorzeitige Geburtstagskarte lag heute im Briefkasten. Absender kenne ich nicht - beigefügt, und da macht's "klick" - ein Essensgutschein fürs Pflegezentrum Entlisberg, ausgestellt vom Gesundheits- und Umweltdepartment Zürich. Wie ich dazu komme? Seit einigen Wochen gehöre ich zu den freiwilligen Helfern und lese etwa alle zwei Wochen am Montagabend überwiegend alten und dementen Bewohnern aus meinem Blog vor.

 

Am letzten Montag hatten wir alle so viel Spass, als ich mit meiner Gruppe von 7 oder 8 Zuhörern, inkl. Frau Müller-Sarkar, die für die Freiwilligenarbeit zuständig ist, in den Flieger nach Kanada gestiegen bin. Wir bestaunen die Niagara-Fälle. Entzücken lassen wir uns bei der Ankunft in Vancouver  von diesem Klavier am Pazifik, auf dem zwei Frauen spielen. Meine Vorlesung wird begleitet vom mühsamen aber erfolgreichen Bemühen, die Fotos und das Video auf unsere zwei Handys und das iPad zu bringen. Reihum zeige ich das Musikvideo „What a wonderful world“ mit Grossaufnahme Klavier und Pazifik. Ich bin wieder in Kanada, meine Zuhörer sind bei mir, und einigen sehe ich die Freude an. Erst im Nachhinein erfahre ich, dass eine der Damen, die uns von ihren Kanada-Urlauben erzählt hat, sehr dement sei. In der letzten Stunde jedenfalls war sie das nicht.  

 

Dank der Karte hab ich mich grad noch rechtzeitig ans Entlisberg-Sommerfest erinnert. Das ist nämlich heute. Auf dem Weg dorthin kommen mir auch schon Fussgänger mit Blumenketten entgegen. Ich grüsse sie lachend vom Rad aus: „Ah, Sie kommen aus der Karibik!“ – bejahend lachen die Leute zurück. Denn das Motto lautet „Karibik“.

 

Von Freiwilligen werde ich mit einer nichtalkoholischen Pinacolada begrüsst, die dank Kokossaft gar nicht schlecht schmeckt. Und ich renne fast in die Freundin einer Freundin – Katharina, Gerontologin im Entlisberg. Ich berichte ihr, dass ich es selbst kaum glauben kann, aber dass ich tatsächlich im freiwilligen Einsatz hier bin ab und zu. Und ich mache es freiwillig und unaufgefordert, seltsame Zufälle – es wurden Vorleser gesucht.

 

Ich schaue mich um und entdecke leider keines meiner „Schäfchen“ – ja wo sind sie denn alle? Noemi, meine Quasi-Chefin von der Freiwilligenarbeit, mit der ich mittlerweile per du bin, meint, Frau (nennen wir sie) Sommer sei hier: „Und sie hat doch heute Geburtstag und wird sich ganz sicher irre über Deine Glückwünsche freuen.“ Und so suche ich Frau Sommer. Diese Bewohnerin ist mir bereits ans Herz gewachsen. Sie müsste 78 sein, kann das Alter aber nicht mehr ausdrücken: „Wenn ich diesen Sommer. Und noch den nächsten Sommer. Dann werde ich 80.“ Und sie weiss, dass sie dement ist. Eine ganz feine, grossgewachsene Frau aus Deutschland, die zu meinen Stamm-Zuhörern gehört und sich immer sehr freut, dabei zu sein.

 

Ich entdecke sie mit einer Pflegerin (oder Ärztin - ich habe nicht aufs Namensschild geschaut) und kann es kaum glauben – Frau Sommer erinnert sich an meinen Namen: „Die Frau Wolf!“ lächelt sie mich an. Ich gratuliere ihr und wünsche alles Gute. Was soll man wünschen? Ich übernehme Frau Sommers Begleitung, und wir gehen langsam nach draussen - ich will ihr mein neues Fahrrad zeigen. Wir setzen uns auf eine Bank unter einem Schatten spendenden Baum und schauen den Aufräumarbeiten nach Ende des karibischen Zaubers zu. Frau Sommer scheint keine Familie zu haben, wohl aber ein paar Freunde. Sie weiss, dass sie nicht mehr viel weiss. Gemeinsam setzen wir ein paar Bruchstücke zusammen. Sie zeigt mir ihre Sonnenbrille, die sie zitternd aus ihrer Tasche zieht und den Deckel der Schatulle aufmacht. Ich bitte sie, die Sonnenbrille aufzusetzen: „Die steht Ihnen sehr gut!“ Die bescheidene Dame freut sich.

 

Das Brillenhin- und -her war ein kleiner Kraftakt. Es folgt ein zweiter, als ich auf dem Boden die Lindt-Schokolade entdecke, die ihr aus der Tasche gefallen zu sein scheint. Schokoladengierig ohne nachzudenken sage ich: „Frau Sommer, Sie haben Schokolade in der Tasche und sagen mir nichts davon?“ Einer dieser, meiner Momente, wo Zurückhaltung durchaus nicht falsch gewesen wäre - handelt es sich dabei doch sicherlich um Frau Sommers Geburtstagsgeschenk. Es gelingt ihr, die harte Verpackung aufzumachen, und das Geburtstagskind freut sich, mir von ihrem Schokoladenschatz etwas anzubieten. Gemeinsam naschen wir Schokolade auf unserer Bank, im Schatten unter dem Baum. 

 

Nach einer Weile ziehe ich weiter und bringe Frau Sommer in ihre Abteilung zurück, wo ein Pfleger ihr herzlich zum Geburtstag gratuliert. Der Fahrstuhl schliesst sich, und das Geburtstagskind bleibt davor stehen und winkt mir lächelnd zum Abschied nach.

 

Lebensenergie in der Pedi-Lounge

 

Ich hatte vor, die Geschichte der letzten 11 Task Force Büro-Tage zu schreiben. Wo dann endlich gestern, Freitagabend, die Spannung nachliess und wir endlich wieder durchatmen konnten - vor dem Wochenende, vor unserem grossen Event in der nächsten Woche.

 

Da kam mir dieser unspektakuläre Samstag gerade recht, an dem ich nichts geplant habe – ausser den üblichen Samstagsbeschäftigungen und vor allem: gepflegt abhängen! Und so kam es mir am Vormittag in den Sinn, dass ich mich mit einer Pediküre durchaus belohnen dürfte. Seit ich das erste Mal dort in Wollishofen-Dorf vorbei gelaufen bin, ist sie mir in Erinnerung geblieben, weil sie so einladend schön aussieht und mich neugierig macht, die „Pedi-Lounge“ im Kilchbergsteig. Die Online-Anmeldung funktioniert tadellos, wie cool, dass mein Wunschtermin um 13 Uhr noch frei ist.

 

Und tatsächlich, schön sieht es aus - Bank draussen neben dem riesigen Rhododendron, Tür auf und an einem Buddha vorbei, setze ich mich in den Bastsessel vor riesigem Fenster. Nachdem die Frau vor mir sich freundlich für die Behandlung bedankt hat, nehme ich dann meinen Platz auf der Behandlungsliege ein und betrachte neugierig die dunkelhäutige, schöne Frau mit den geschmackvoll gegelten Fingernägeln in zartrosa und den gestreckten, langen Haaren, die sie im Nacken zusammengebunden hat. Schon vorher war mir ein Zeugnis an der Wand aufgefallen, das aus Baltimore stammt. Die Pediküre verspricht, interessant zu werden.

 

Kathleen spricht tadellos deutsch, wenn sie sich auch wohler auf schweizerdeutsch fühlen würde, wie sie später sagt. Ihre Muttersprache ist englisch. Sie ist die Besitzerin der Pedi-Lounge und betreibt den Laden seit acht Jahren, allein. Das zollt mir Respekt. Wo sie herkomme frage ich. „Baltimore“, ist ihre Antwort. Und zum zweiten Mal innerhalb von drei Monaten bitte ich eine wildfremde Person: „Erzählen Sie mir Ihre Geschichte.“

 

Und Kathleen erzählt. Von ihrer Kindheit und der Familie in den USA, von der Grossmutter in der Schweiz. Von ihrem Leben hier. Sie zeigt mir ein Bild ihrer bildschönen Tochter. Über ihr Leben könnte sie mehrere Buchbände schreiben. Ich darf teilhaben an einigen Auszügen aus einem bewegten Leben. Es hat aus dieser Frau eine starke Persönlichkeit mit grosser Sensitivität und positiver Energie und Lebenseinstellung gemacht.  

 

Bereits nach kurzer Zeit habe ich mich gefragt, ob ich mit meinen Fragen zu weit gegangen bin. Doch ich spüre, dass es gut ist, so wie’s ist. Diese mir fremde Frau schenkt mir ihr Vertrauen, während sie sich professionell um meine Füsse kümmert. Erst beim Lackieren mit dem beliebten „Opi Malaga Wine“ Dunkelrot verrät sie mir, dass ich erst die zweite Kundin sei, der sie all das erzähle. „Und noch was“ – und sie guckt mich an, ob sie mir das auch wirklich sagen kann: „Ich wollte heute eigentlich frei machen, nachdem ich gestern 11 Termine hatte. Dann kam Ihre Anfrage für 13 Uhr. Ich hatte vor, Sie auf einen andern Termin zu verlegen. Aber ich konnte es wie nicht und habe zugesagt.“  Ihre Nachbarin, die Coiffeuse, habe sich gewundert, sie heute doch noch im Laden zu sehen. Ja, sie habe eine „Notfallkundin“ und dann noch eine unbekannte Frau, auf die sie sehr neugierig sei. „Ach, Du immer mit Deinen Andeutungen …“, soll sich die Nachbarin noch lachend ins Wochenende verabschiedet haben.

 

Kathleen fragt mich selbstverständlich auch nach meinem Leben, doch selbst diese sehr ausführliche Fusspflege ist mal beendet. Ich bin mir sicher, dass die Geschichten weiter fliessen werden zwischen uns. Wir umarmen uns zum Abschied.

 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Katrin (Samstag, 15 Juli 2017 15:34)

    Hey Bettina, ich war eigentlich dabei aus Balkonien ins Freie zu preschen und habe es mit einem zweiten Kaffee und 2 Tortina Dark Keksen (Haaammmer...) hinausgezögert.
    Also den Laptop runterfahren und....nee warte mal - was macht die Lotte eigentlich.
    .....Und nun bin ich auf Deiner Website und lese, dass Du schon eine beliebte Vorleserin geworden bist. Etwas, dass mir lange im Sinn ist, hast Du schon umgesetzt.......Jetzt bringst Du mich so was von zum Heulen. Bin voll gerührt, so ist das eben. Bettina, ich freue mich für Dich .....und bin auch ein bisschen traurig, dass ich so eine Zögerkuh bin.
    Ok, nicht ganz, ich habe mich für 2 interessante Workshops in Berlin angemeldet und muss noch abwarten, ob ich dabei sein kann. Die Urlaubstage für dieses Jahr sind eben schon überzogen.

    Ich finde das ganz doll, was Du machst.
    Liebe Grüsse
    Katrin