Mein erstes Sting-Konzert seit vielen Jahren. Auslöser für Rückblicke, Einblicke und Ausblicke. Eine Gefühlslage rund um den Englishman mit der unverwechselbaren Stimme an einem Sommerabend in Zürich.
23. Juli 2013
Auch er ist älter geworden. Wenn auch tadellos anzusehen mit seinen fast 62 Jahren. Dunkle Röhrenjeans, das weisse Shirt betont den durchtrainierten Oberkörper. Kopf fast kahl rasiert, Haaransatz nach hinten gewandert. Gitarre umgehängt. Breites Grinsen: „Grüezi mitenand!“
Im Gegensatz zu vielen der „Oldies“ bei dieser kuriosen „Live at Sunset“ Veranstaltung ist Sting brandaktuell. Sein neues Album „The Last Ship“ kommt in wenigen Wochen, am 24. September, raus. Parallel dazu arbeitet er am gleichnamigen Musical über das Leben, die Liebe und seine Heimat Newcastle. Uraufführung am Broadway geplant für 2014.
Wenn auch all das nichts zu tun hat mit diesem Open-Air-Konzert hier oben beim Dolder, an einem prächtigen Freitagabend im Juli. Los geht’s mit „If I ever lose my faith in you.“
Ein pragmatisches Angebot
Der erste veröffentlichte Song des neuen Albums heisst „Practical Arrangement“. Entdeckt von mir mehr zufällig im Rahmen neugieriger Recherche, in kindlicher Vorfreude aufs Konzert, vor drei Tagen auf Twitter. Kurz reingehört … huiiii … unverzüglich 2.20 CHF investiert und während des Runterladens bereits das Herz ganz weit geöffnet: Und so sitze ich am Donnerstag vor dem Sting-Konzert, an meinem letzten Urlaubstag am schönsten Wellness-Ort dieser Erde, in der wunderbarsten Schaukel-Liege Bayerns. Ich habe die beiden in der heiligen Ruhezone dieses Ortes völlig deplatzierten Stöpsel fest in meine Ohrmuscheln eingeklemmt: Und ich lausche den Klängen. Ich lausche dieser unverkennbaren Stimme.
Und keine noch so ayurvedische Massage, kein noch so gewaltiges Bergpanorama, keine noch so traumhafte Gaumen-Kreation schafft, was der englische Stachel wieder mal schafft: Bin weg! Bin hin und weg. Ein Lied von der unerwiderten Liebe. Der pragmatische Vorschlag, doch einfach zusammenzuziehen: „And you could learn to love me. Given time.“ Der Stachel berührt. Immer noch. Immer wieder.
Träumerei in Gold-Orange
Sie springen auf. Vor mir in der 15. Reihe. Schon beim dritten Song springen sie auf: „Englishman in New York.“ Ist das normal? Schon beim dritten Lied mittanzen …? Bei dieser gesetzten Veranstaltung? Mir ist’s mehr als recht. Endlich Bewegung. Neben mir sind zwei Plätze frei. Ich könnte mir vorstellen – wenn das hier weiter so abgeht – dass ich diese freien Plätze mit Beschlag belege. Und zwar stehend. Sehe mich im Geiste auf den Plastikstühlen stehen (so sie denn hoffentlich halten mögen), mich im Takt der Musik bewegen und meinem Idol den knallorangen Schal rhythmisch entgegen wehen. Woraufhin Sting mich aus der Mitte des Zuschauerraums wahrnehmen würde, die orange Frau in Reihe 16 auf den Stühlen 11 bis 13. Und er würde nur für mich singen, „Fields of Gold“, nur für mich.
Glück für alle und Glück vor allem für mich, dass es nicht soweit kommt: „Sit down and relax! It will be a loooong night.“
Ob Stereoanlage oder iTunes – die Stimme berührt
Was hab ich mich auf dieses Konzert gefreut. Sting-Fan seit Teenager-Tagen. Es muss ungefähr dann losgegangen sein, als er eigene Wege ging. Der Stachel. Ohne die Polizei. Damals hab ich natürlich noch bei den Eltern gewohnt. Mädchenzimmer mit dunkelblauer Blümchentapete. Aber musikalisch auf dem letzten Stand mit eigenem Plattenspieler! Stereoanlage hiess das damals. Hatte ich da schon den Turm? Ein Monstrum von etwa einem Meter Höhe, das den halben Raum versperrt, aber astreine Musik gemacht hat – wie soll man das der Generation iPhone erklären? Wir hatten Platten, lange bevor die CDs kamen, Lichtjahre vor den iTunes …
Seine Stimme ist unverändert geblieben. Besser geworden? Vielleicht ist die Stimme unverändert, aber der Künstler hat sich weiterentwickelt. Musikalisch viel ausprobiert. Verschiedene Stilrichtungen. Jazz, Pop, Rock, Klassik, Folk. „If on a winter’s night“ hat mir rein musikalisch schon sehr gefallen. Aber als ich dann noch die Dokumentation über die alten, traditionellen Musikinstrumente und die Virtuosen auf diesen Instrumenten gesehen habe, die Sting zum Proben in eine Kirche geholt hat … ein kleines Juwel, diese CD.
Freilich, Sting ist ein Superstar. Sehr erfolgreich. Eine Marke. Keine Ahnung, ob er der Gutmensch ist, für den man ihn anhand seiner Umwelt- und politischen Engagements halten darf. Natürlich bin ich geneigt, ihm Glauben zu schenken. Doch dieser Glaube kann vergehen, ist auch nicht wichtig. Was wichtig ist und nicht vergehen soll, ist meine Empfänglichkeit für diese Stimme. Für die Schwingungen dieser Stimme. Ihre Unverwechselbarkeit. Das artikulierte Englisch. Bei einigen Balladen ist es, als streichle mich der Stachel. Es mag naiv klingen und ist ganz sicher schwärmerisch. Und das ist gut so. Immer noch. Und immer wieder.
Wäre es wirklich so schlimm?
Jazziges Klavier. Sanfte Trommelschläge. Rhythmisches Vorspiel. Er fragt: „Am I asking for the moon?“ Pause. „Is it really so implausible?“ Pause. „That you and I could soon …“ Lange Pause. „… come to some kind of arrangement?“ Pause. „With one roof above our heads. A warm house to return to. We could start with separate beds, I could sleep alone – or learn to.“ … „I’d be a father to your boy. A shoulder you could lean on. How bad could it be …? To be my wife?“ Und seine Stimme fängt mich ein, sie nimmt mich mit … „We could come to an arrangement. A practical arrangement. And you could learn to love me. Given tiieeeme …“
Nichts von seinem pragmatischen Angebot wird Sting auch nur ansatzweise beim Konzert singen. Dafür seine bekannten Songs. Recht viele Police-Songs, seine Sting-Hits und ein paar Stachelhaut-Balladen. Gut isser drauf, der Herr Sumner. Und das, obwohl er seit zwei Jahren auf Welttournee ist und im Moment alle 1-2-3 Tage an einem andern Ort. Gleich geht’s weiter nach Russland.
Und da meine Lieblings-Songs nun mal die leisen Lieder sind: Wie klug ist es doch von ihm gewählt, dass die allerletzte Zugabe, in mittlerweile dunkler Nacht, von der abgedunkelten Bühne – dass diese Zugabe einer seiner magischen Songs ist. Die geradewegs das Herz berühren.
Nichts als Gitarre und des Stachels Stimme: „Fragile. Unless we forget how fragile we are.“