Marlene blickt aufs Meer hinunter. Wie sie es an fast jedem Morgen macht. Seit mehr als 15 Jahren. Sie kennt es in allen Facetten von seidenschimmernd und glatt bis sturmgepeitscht, bedrohlich. Heute schaut sie über das Geländer und die Häuserdächer hinunter zum Hafen. Dort ragen die rauen Felsen von Strombolicchio, dem kleinen Inselchen vor der Ostküste, aus dem Meer heraus. Ein Segelboot hat Touristen dorthin gebracht zur Morgentour. Sie werden baden gehen und kurz die Felsentreppe herauf zum Aussichtspunkt gehen.
Giuseppe bringt ihr den zweiten Espresso nach ihrem Cappuccino und legt ihr danach kurz die Hände auf die Schultern, um seiner Stammkundin eine Streicheleinheit zu gewähren - „Bellissima Marlena“ - und wendet sich den jungen Amerikanerinnen am Nebentisch zu: „How can I help you, Ladies?“, mit seinem unschlagbaren italienischen Akzent, der jede Touristin dahinschmelzen lässt. Giuseppe ist die Persönlichkeit hier, ihm gehört die „Bar Ingrid“, das Café im Zentrum von Stromboli mit 360 Grad Aussicht über die Insel.
Sie nimmt all das wahr. Aber Marlene ist weit weg. Der Laptop, den sie jeden Morgen mitbringt, liegt unberührt auf dem Stuhl neben ihr und bruzzelt in der Sonne. Doch das Handy, ja, das unvermeidliche Handy liegt auf dem Tisch und noch einmal liest sie die Nachricht. Dann steht sie auf, vergisst zu zahlen, läuft durch die engen Gassen der Insel zu ihrem kleinen Häuschen und packt ihren Koffer. Tommaso bringt sie mit dem Ape zur Fähre. Sechs Stunden bis Neapel. 12 Stunden via Rom nach New York. Sie landet in einer fernen Welt, einer fremden Welt. Sie wollte nie wieder zurückkehren.
David wird am 3. Mai beerdigt. Sechs Tage vor seinem sechzigsten Geburtstag. Sonne in New York. Ein Hurricane in ihrem Herzen. Mit gefasster Stimme, ohne Groll, doch frei von Mitgefühl drückt sie seiner Witwe ihr Beileid aus. Jonas steht neben seiner Mutter am Grab des Vaters. Er kennt Marlene nicht. Wie soll er sie kennen. Mit seiner Entstehung hat Marlene ihr altes Leben verloren. Die Befruchtung dieser Eizelle, dieses unvorstellbare, dieses wundersame Werden, hat ihr geplantes Leben mit der Gewalt einer Bombe zerstört. Ihr den Boden unter den Füssen weggezogen. Doch das kann dieser schöne junge Mann mit seinen 21 Jahren und Augen, die denen von David so sehr ähneln, nicht wissen. Was kann er für das Erdbeben seiner Geburt?
Bevor noch Freunde von damals auf sie zukommen können, verlässt sie den Friedhof, besteigt ein Taxi. Und sie lässt sich fahren. Treiben im Verkehr. Einfach nur fahren. Zur Rush Hour in New York. Autolärm, Hupen, Verkehrschaos. Sie will einfach nur nichts machen. Ein Nichts sein im Teil eines unendlichen Ganzen. Fuck you, America.
„Harbour House, please!“ Erleichtert bestätigt ihr der Taxifahrer, dass er verstanden hat, wo’s hin geht. Er wird sie verflucht haben für dieses sinnlose Umherfahren im Big Apple, während das Taxameter jedoch etwaigen Groll in bare Münze verwandelt.
Als sie aussteigt, ist es kälter als damals, als sie zum letzten Mal hier war. Es fröstelt sie. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass sie seit zwei Tagen kaum gegessen hat. Es ist ihr gleich. Wie hat sich das Harbour Hause verändert. Kann es sein, dass es jetzt besser aussieht als damals? Ach, könnte man uns Menschen doch auch so einfach restaurieren. Renovieren. Von innen, und nach aussen. Die Fassade leuchtet warm in der Nachmittagssonne.
Marlene lässt es hinter sich liegen und geht weiter den Promenadenweg am Meer entlang. Nach einigen Minuten biegt sie ab auf die Wiese und wandert ein Stück den Hügel hinauf. Unter einer der Eichen bleibt sie stehen. Andächtig. Sie legt beide Hände auf die von der Sonne gewärmte Rinde und bewegt ihre Finger. Nach einer Weile setzt sie sich ins Gras, den Rücken zum Baumstamm, das Gesicht dem Meer zugewendet. Sie öffnet ihre Tasche und nimmt ein flaches Etui heraus, aus dem sie behutsam einen Brief herausnimmt. Sie legt ihn zwischen ihre Hände, um das leicht vergilbte Papier zu spüren. Dann holt sie aus dem offenen Kuvert den Brief heraus, den sie lange, lange nicht mehr gelesen hat.
Meine geliebte Marlene
Diese Zeilen werden Dir unendlich weh tun. Sie werden alles, was ich Dir gesagt habe, in Frage stellen und unser beider Leben erschüttern. Ich kann nicht anders. Ich bereue. Ich leide. Ich hasse mich. Chiara erwartet ein Kind von mir. Sie ist bereits im siebten Monat. Es ist passiert, bevor ich mich von ihr getrennt habe. Bevor Du in mein Leben getreten bist.
Ich habe nicht die Kraft, mich für meine Liebe zu Dir zu entscheiden und mich damit meiner Verantwortung für ein neues Leben zu entziehen. Ich würde es so gerne können. Ich schaffe es nicht. Es ist zu gewaltig für mich. Ich muss diesem Wesen das gewähren, was ich ihm „schuldig“ bin. Bin ich schuldig? Ich fühle mich so. Weil ich Dir weh tue, weil ich nicht die Kraft, nicht den Mut habe, „uns“ zuzulassen mit Schuld auf dem neuen Leben.
Verzeih mir. Verzeih dem Schicksal. Ich weiss, Du wirst Deinen Weg weiter gehen, reisen, schreiben, das Leben lieben. Ich weiss es. Dafür danke ich Dir so sehr.
David
Marlene atmet tief ein und aus. Alles ist wieder da. Sie will es nicht zulassen, doch sie weiss, es muss sein. Hier, wo sie oft gewesen waren. An diesem magischen Platz im Schutz der Eiche, von dem aus sie alles überblicken konnten und von nur wenigen wahrgenommen wurden. Sie legt sich ins Gras. Arme und Beine fest angespannt. Sie strampelt, zittert, will schreien. Schreien. Dass man’s bis nach Stromboli hören kann. Doch es kommt kein Laut. Nur Tränen. Langsam und aus weiter Ferne. Von ganz tief aus ihrem Bauch. Eine Eruption von Tränen. Sie gibt sich ihnen hin.
Den Brief zerreisst sie anschliessend langsam, liebevoll. Mit ihrem Kugelschreiber sticht sie in den weichen Boden, buddelt ein winziges Loch, in das sie die Schnipsel hinein drückt. Erde darauf.
Sie läuft hinunter zum Meer. Salzgeruch. Möwen schreien. Kinder kreischen und lachen. Hunde bellen. Mütter, Väter, Grosseltern mit Kinderwagen, grosse und kleine Menschen auf Rädern, Jogger. Segelboote auf dem Meer. Wie sehr sie das liebt. Sie spürt die Sonne auf ihrer Haut, im Gesicht. Für einen Moment schliesst sie die Augen und nimmt dankbar die Wärme an.
Ja, das Meer hat ihr immer geholfen. Die Weite und Unendlichkeit, seine Schönheit und Naturgewalt. Die Unbezwingbarkeit. Das Göttliche.
Die Sehnsucht nach Stromboli überkommt Marlene unvorbereitet. Es war reiner Zufall, dass sie ausgerechnet auf dieser Insel geblieben ist. So viele Orte am Meer hat sie besucht in ihrem Leben. Auf der Vulkaninsel hat sie sich niedergelassen. Einen Roman geschrieben und veröffentlicht. Es ist nicht ihr einziger geblieben, und weitere werden folgen. Dafür braucht sie nicht viel: ihren Laptop, Giuseppes Espresso und den Blick auf Strombolicchio.
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