La Mer
Von Ebbe und Flut
Der Mond hat die Macht, die Ozeane der Welt zu beeinflussen - und da soll er keine Macht über uns Menschen haben?
Mit dem Atlantik vor Augen und dem Geräusch der Brandung in den Ohren wächst mein Respekt vor dem Mond. Auch nochmaliges Nachlesen über Ebbe und Flut lässt mich die Gezeiten zwar nicht verstehen. Doch geht es um Sonne und Mond, um Perioden und um Mondphasen.
Hier sprechen sie zusätzlich vom "Coefficient". Das erste Mal bewusst gehört von ihm habe ich von einer Mutter, die ihrem kleinen
Sohn die Gezeiten erklärt hat. Mann, dachte ich, hier werden die Kinder schon mit Astrophysik vertraut gemacht. Mittlerweile weiss ich, der Koeffizient gehört zum Leben in Saint Malo dazu wie
Crèpes und die Stadtmauer. Ich lese, dass der Gezeitenkoeffizient die Differenz zwischen der Höhe von aufeinanderfolgenden Fluten und Ebben angibt. Er ist maximal 120 kurz nach Vollmond und
Neumond.
Im Moment ist er eher gering. Wir haben Koeffizient 51, wie das Schild an meinem Lieblingsort in Saint Malo, dem "Corps du Garde" auf der Stadtmauer, angibt. Verständlicher ist mir da allerdings die Angabe des niedrigsten Wasserstands der Ebbe: Zeitangabe 17:59 Uhr. Somit quasi jetzt, und ja - das Meer hat sich stark zurückgezogen.
Mir fällt ein, dass der Mond auch Herrscher über mein Sternzeichen, den Krebs, ist. Und noch etwas: In den romanischen Sprachen ist "Mond" eine Frau und "Sonne" ein Mann: "la lune" und "le soleil". Im Französischen heisst es ausserdem "la mer", auch das Meer ist weiblich. Wir Frauen: Mond. Meer. Und der Wassertropfen ich.
Haus am Meer
Seit gestern wohne ich in meinem kleinen Haus am Meer. So fühlt es sich jedenfalls an. So träumt es sich. Ich wollte raus aus der düsteren, engen "Intra-Muros" oder auch "Ville Close" wie sie das Innere der Stadtmauer von Saint Malo nennen. Raus aus dem dunklen Zimmer, hin zum Meer. Bei meinem Regenspaziergang am Sonntag hatte ich ein Hotel am Strand im Auge und mir Zimmer Nr. 308 angeschaut. Ich wollte nicht weniger als ein Zimmer mit Meerblick. Und le voilà, ich hab es - Balkon mit Bastsesseln, Blick auf die Uferpromenade und das Meer, dazu ein grosses, helles Zimmer. Zu einem richtig guten Preis. Hier will ich bleiben.
Das Rauschen des Meeres in meiner ersten Nacht am Meer ist mehr ein Krachen, ungewohnt. Mit Macht nähert sich der Atlantik der Uferpromenade, wo er gegen 23 Uhr den Höchststand der Flut erreicht. Es hört sich an, als sei das nahe.
Und wenn ich morgens aufwache, ist der Ozean zurück getreten. Jogger, Hundeherrchen und Spaziergänger laufen weit, weit vorne, trockenen Schuhes oder barfuss am Wasser entlang. Oder es kommen diese seltsamen Gestalten im Wasser vorbeimarschiert. Heute musste ich beim Frühstück die Kellnerin fragen, was das eigentlich sei: Menschen in Taucheranzügen, die in Gruppen, bis zur Brust im Wasser durch die Wellen waten: "Longe Côte" - das Schauspiel hat einen Namen. Eine neue Wassersportart stellt sich vor. An der Küste (im Wasser) entlang marschieren. Es klingt interessant, sieht witzig aus. Ich stelle mir vor, wie ich mich anstellen würde, garantiert ausrutschen und kurz untertauchen. Immerhin wäre ich bereit, das Ganze einmal auszuprobieren. Aber nicht allein. Nein, das ist nichts für mich.
Sie sind sportlich hier. Jogger, Jogger, Jogger. Zu jeder Tageszeit und auch am Abend joggen sie. Wie überall joggen nur diejenigen, die eh schon fit aussehen. Aber hier am Strand bzw. nahe an der Brandung oder auch auf der Uferpromenade lasse ich es mir gefallen. Schön muss es sein bei dieser Aussicht. Schade, dass ich nicht jogge.
Promenieren
Ich laufe. Promeniere. Marschiere. Ich verliere wieder mal einen Schal. Einen Lieblingsschal, der mit den rosa Blüten auf vielen meiner Fotos. Immer sind es Lieblingsschals. Es macht mich traurig.
Hunde und ihre Besitzer fallen mir auf. Für mich sind Hunde ein Geheimrezept, um fit zu bleiben. Die Herrchen sind bei Wind und Wetter draussen, und ich bewundere sie. Und dann treffe ich all die Paare, die Verliebten, die Familien, Freundinnen, Gruppen. Und natürlich begegnen mir auch alleinige Menschen. Ja, das Alleinsein ist mir bewusst. Auch wenn ich daran gewöhnt bin.
Zum Glück hat mir seit zwei Tagen niemand mehr die Frage gestellt: "Vous êtes seule - Sie sind allein?" Gefragt wurde ich im Hotel, im Restaurant. Wie ich diese Frage hasse. Und dabei weiss ich, es ist nicht persönlich und nicht böse gemeint. Die Gastwirte wollen sich vergewissern, dass keine zweite Person mehr kommt. Für mich hat es einen bitteren Beigeschmack. Ich denke immer, der Hotelier sieht den Verdienstausfall für die zweite Person. Hier in Saint Malo ist Nebensaison, sie geben mir das Gefühl, sich über meinen Besuch zu freuen.
So gehen wir alle unserer Wege am Sillon, dem Strand von Saint Malo. Ich sammle Muscheln - das hab ich seit meiner Kindheit nicht mehr gemacht. Dafür nun mit kindlicher Freude. Spuren im trockenen Sand, im feuchten Sand. Schlick. Die Sonne kommt.
Auch für heute war die Vorhersage schlecht. Doch die Dame an der Rezeption hat mir gestern bereits Sonne angekündigt. Wo die Sonne ihre Strahlen hin schickt, befreit sie all die düsteren Gemäuer von ihrer Härte und verleiht ihnen mit etwas Licht so viel mehr Schönheit. Als würde sie Steine erwecken. Ich gehe der Sonne entgegen nach Saint Malo.
Das Fort National ist heute geschlossen, wie mir die Crêpe-Verkäuferin am Stadteingang erklärt. Die Flagge von Saint Malo sei nicht gehisst. Mir auch recht. Ich schlendere weiter, lasse mich treiben. Ich gehe wieder auf die Festungsmauer und umrunde das Städtchen. Auf die Kaimauer soll es gehen, bis hin zum Leuchtturm. Richtig warm wird es dort in der Sonne und wie angenehm ist es an einem Dienstag - im Gegensatz zu dem Betrieb in Saint Malo am letzten Samstag.
Am Abend sitze ich halt wieder bei "Le Corps de Garde" auf der Festungsmauer. Auf einem Hocker in der Sonne, mit Blick auf Le Grand Bé und Le Petit Bé in der Ferne. Das Wasser hat sich jetzt maximal zurückgezogen. Alles sieht aus wie in einer Mondlandschaft. Beim Heimweg am Strand entlang spiegeln sich Menschen, Tiere und Felsen in den Wasserresten, die der Ebbe noch widerstehen. Es verleiht dem Moment einen silbrigen Glanz.
Im Rhythmus des Meeres
Es kommt mir vor, als dass die Menschen hier anders leben als unsereins. Liegt es daran, dass die meisten Leute hier Touristen sind und dieses unnormale Ferien-Dasein gar nicht zählt? Aber ich meine damit auch die Einheimischen aus Saint Malo, die wie ich am Strand entlang gehen. Wahrscheinlich interpretiere ich es nur in die Menschen hier hinein: entschleunigt, entspannt, bewusst. Nein, es kann nicht so einfach und auch nicht so generell sein. Welchen Einfluss hat der Rhythmus von Ebbe und Flut auf das Leben in Saint Malo? Ich habe keine Ahnung.
Was ich sehe, sind Menschen, die bei Niedrigwasser am Abend den Strand entlang gehen. Es hat den Anschein, als würden sie den hinscheidenden Tag würdigen, die Wärme des Spätsommertags geniessen, bevor die Sonne untergeht, der Mond die Regentschaft übernimmt und das Meer näher kommt. Ein Kommen und Gehen des Meeres. Mächtiges, unauffälliges Schauspiel. Jeden Tag.
Und so höre ich sie wieder, die Wellen, in meinem erträumten Haus am Meer. Wie sie sich ihren Weg hin zu Uferpromenade erobern. Es klingt immer noch ungewohnt. Und doch seltsam vertraut. Denn irgendetwas verbindet mich, Wasserzeichen Krebs, wohl doch mit dem Wasser - kein Sport, kein Schiff und auch kein Mensch. Vielleicht ist es einfach eine Berührung.
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