Die gut gekleidete Dame mit dem akkurat hochgesteckten Haar setzt sich an den Nebentisch und dreht mir den Rücken zu. Ich sehe rot lackierte Fingernägel an gepflegten Händen, die mit Altersflecken übersät sind. Die Dame packt ein leeres, verschmutztes Gläschen aus sowie einen dicken und einen dünnen Pinsel. Zu zeichnen beginnt sie dann mit einem Bleistift, den sie erst lange vor sich hinhält, um die Perspektive einzufangen. Auf dem Zeichenblock neben der Kaffeetasse entsteht langsam der gusseiserne Balkon von nebenan, Eckhaus Rue de Grenelle und Rue du Dragon.
Derweil geniesse ich den Sonnenplatz, den ich mir aus der hinteren Reihe erkämpft habe. Ich sitze in der Bar "de la Croix Rouge" an der gleichnamigen Kreuzung. Wieder so ein Lieblingsplatz - im 6. Arrondissement, mitten in St. Germain des Prés. Eigentlich wollte ich heute in die Bretagne fahren. Es ging aber noch nicht, Paris hat um Verlängerung gebeten.
Eine neue Frisur habe ich - wenn es auch nur wenigen auffallen würde. "La coupe" geschnitten vom jungen Brandon beim Maniatis Coiffeur, 35 rue de Sèvres. Eine Spontanentscheidung - wenn auch ein Friseurbesuch in Paris angedacht war. Der Laden war genau das, wonach ich suchte: junge, hippe Friseure. Brandon weiss, wie man mit Locken umgeht. Er kämmt, schnipselt trocken los, föhnt später in alle Richtungen. Und ... ja, ich habe es genossen. Wenn ich irgendwo Komplimente höre, dann ist es beim Friseur: "Elles sont géniales, vos cheveux!" Ah oui, er darf gerne alles mit meinen Haaren machen.
Brandon kommt aus Nordfrankreich, aus Lille, dem Land der Ch'tis - und hat mir die Stadt ans Herz gelegt. Eine Stunde nur entfernt von Paris sei sie, mit dem TGV könne man einen Tagesausflug nach Lille machen.
Jetzt bestellt die zeichnende Dame ein Bier. Mon Dieu, das passt gar nicht in mein Bild von ihr. Und wenn ich noch länger hier abhänge, erliege ich der Versuchung, jetzt, um 16:30 h mit dem Apero anzufangen. Nein, lieber weiter, mein Ziel ist die Place de l'Odéon, wo ich 2007 für ein paar Monate gewohnt habe.
Weit komme ich nicht. Ich muss noch einkehren in die schrecklichste Apotheke der Welt. Ein Apotheken-Supermarkt bestehend aus engen Gängen zwischen übervollen Regalen, in denen sich Kunden und Verkäuferinnen gegenseitig im Weg stehen. Grausam, aber immer noch superbillige Kosmetik (Nuxe). Citypharma, rue de la Four.
Dann weiter in Richtung Odéon. Mein Herz schlägt schneller, als ich "Gérard Mulot" wiedersehe. Patisserie. Wieder so ein Paradies. Verzückt lustwandle ich im Laden rum. Mache Bekanntschaft mit Franzosen, die wie ich in einer der vielen Schlangen stehen. Erst an der Kuchentheke. Dann an der Kasse. Schliesslich wieder an der Kuchentheke zum Abholen des "Amaryllis", das ich mir als Hausspezialität habe empfehlen lassen. Am Ende verabschieden wir uns freundlich, die nette Frau mit den dunklen Locken meint nur, das sei typisch französisch, solch eine schlechte Organisation im Laden - aber es schmecke halt so gut. Wir besiegeln die deutsch-französische Freundschaft mit einem Lächeln und ziehen mit unseren Leckereien weiter.
Wenige Meter entfernt kommt der nächste Stopp - im "Sabre", einem kleinen Küchengeschäft, das ich ebenfalls noch von 2007 kenne. Ich schaffe es, etwa 30 Minuten lang zu überlegen, welche drei Kaffeelöffel wohl die mich beglückendsten sein könnten: rot, pink, gelb, grün, blau, gepunktet, gestreift, kariert, mit Blümchen, Elefäntchen, grosses Muster, kleines Muster. Ich hätte mich beeilt, wenn nicht die Amerikanerin an der Kasse ihre Weihnachtseinkäufe just in diesem Moment hätte erledigen müssen. Sie investiert mehr als als 600 Euro. "Merry Christmas" meint die Verkäuferin lakonisch und überreicht ihr die gefüllte Einkaufstasche.
Theater im Procope
Cooles Kammerspiel jetzt am Abend im Procope, dem ältesten Restaurant von Paris - auch das eine alte Erinnerung. Zunächst sitze ich allein in einem wunderschönen Raum mit Bücherregal, Gemälden und herrlicher Jazz-Musik. Auch wenn ich allein bin, find ich's richtig toll hier. Da wird eine weitere Single-Frau herein geleitet. Tisch vor rücken, Frau rein setzen, Tisch zurück schieben. Wie es so ist unter uns Singles - wir ignorieren uns gerne. Die Frau trägt ein elegantes schwarzes Kleid, hat blonde Haare, Typ Bridget Jones. Sie bittet um die Speisekarte auf Englisch, Weinkarte im Original. Sie beeindruckt mich - bestellt sie doch eine ganze Flasche Wein! Aber nein, sie hat einfach das Glück, eine neue Flasche anbrechen zu können.
Ein französisches Paar wird neben mir platziert. Sympathisch, älter. Dann kommt eine Dreiergruppe. Der Anführer ähnelt Charles Bronson. Spricht fliessend Französisch, will unbedingt an den Nebentisch. Den kriegt er aber nicht. Man sieht, dass Bronson gewohnt ist, das zu erhalten, was er will. Ich habe kurz Sorge um die Bedienung, doch Bronson bleibt ruhig. Zu ihm gehört eine schwarzhaarige Russin und ein sehr dicker Russe, der insgesamt drei Siegelringe trägt. Die Ringe werden präsentiert und sind Thema am Tisch. Leider verstehe ich die Unterhaltung nicht.
Charles Bronson motzt schon wieder. Dieses Mal gegen den Oberkellner. Ich rolle die Augen. So lang, dass es auch die französische Tischnachbarin mitkriegt, deren Aufmerksamkeit ebenfalls bei Bronson ist. Sie versteht mich. Lachen muss ich, als ihr Mann nach verzweifelter Suche für sein iPad nach dem Wifi-Netz und Passwort die Frage stellt: "Voltaire - c'est dans s?" Grandios!
Die blonde Single-Dame sieht wirklich aus wie Renée Zellweger. Ich würde ihr gerne verschwörerisch zulächeln. Aber sie ist komplett in ihrer Welt. Wahrscheinlich textet sie gerade mit Darcy, und er kommt nachher noch zu ihr hier ins Procope und sagt ihr, dass er sie liebt, ganz genau so wie sie ist.
Jetzt hat Bridget tatsächlich Kontakt aufgenommen, gelächelt und "Enjoy" zur Gruppe Bronson gesagt, ich bin überrascht! Die Russen haben eine gigantische Austernplatte bestellt. Nichts Anderes hat man erwartet. Der dicke Russe macht ein Foto von Lady mit süssem Lächeln. Alle im Raum gucken hin. Bronson geniesst die Aufmerksamkeit, steht auf und macht auch noch ein paar Fotos. Bridget hat sich wieder in ihre Welt zurückgezogen. Die Russen fangen jetzt an, geräusch-stark ihre Austern zu schlürfen. "L'addition s'il vous plait", sage ich zum Ober. Zeit, das Theater zu verlassen.