Endlich fühle ich die wohltuende Kraft des Wassers. Nach einem unaufgeregten Spaziergang von Lausanne ins ca. 6.5 Kilometer entfernte Saint Sulpice - immer am See entlang, mit vielen Fotostopps. Der Hinweg war schön, aber vielleicht war er mir zu einsam an diesem frühen Samstagnachmittag. Wobei – einsam war der Weg nicht, aber wahrscheinlich hab ich zu wenig das Leben gespürt auf dem Uferweg. Jogger waren unterwegs, wie überall, ein paar Radfahrer, Eltern mit Kindern, Liebespaare, alleinige Spaziergänger. So wie ich.
Die Sonne scheint herrlich, wie es die Wettervorhersage versprochen hat. Und genau deshalb bin ich an den Genfer See und nicht ins Tessin gefahren. Sehnsucht nach Sonne, nach einem Sonnenspaziergang - und nach Wasser. Und wer anders als meine Patentante sollte mir da den goldenen Tipp geben: „Du könntest nach Lausanne fahren (wobei sie „Lausanne“ wie selbstverständlich auf der ersten Silbe betont). Und dann am See entlang nach Saint Sulpice laufen. Da bist Du die ganze Zeit am Wasser - und in der Sonne. Es muss einen Weg am Ufer entlang geben. Guck es mal nach im Internet.“ Und so geschah es.
Lausanne. Lange her. In Lausanne hab ich nach zwei Semestern Dolmetscherstudium gejobbt. 1986. Ein paar Wochen im Kaufhaus "Innovation". In der Damenoberbekleidung und in der Kinderabteilung. Ich weiss kaum noch etwas davon. Ich hab in einer Art Studentenwohnheim mit anderen Studenten und Sprachschülern gewohnt. Einmal hab ich mit meinem alten Audi 50 eine Rundfahrt um den Genfer See gemacht. Inklusive Seilbahn hoch zum Montblanc. Diese Gondelfahrt war sicherlich so steil wie die neulich hoch zum Pilatus. Viel mehr weiss ich nicht mehr von Lausanne. Im Studentenwohnheim war ich einmal dabei, wie irgendein Typ uns Mädels gezeigt hat, wie man einen Joint dreht. Zugeschaut hab ich, beendruckt war ich nicht. Nie hätte ich es selbst ausprobiert und eine geraucht, braves Mädel. In einen blonden Hünen aus Skandinavien war ich, glaub ich, verliebt. Und aus der angesagten Studentenkneipe, dem „Bonaparte“, hab ich ein Porzellantellerchen "mitgenommen". Beschämend. Gleichzeitig hat es dem Porzellan, das wohl ursprünglich ein Aschenbecher war, ein langes, gepflegtes Leben in meinem Bad beschert als Schmuckbehälter.
All diese Erinnerungen kommen mir nicht. Weder bei der Zugfahrt runter nach Lausanne in dem Moment, als der Intercity sich plötzlich nach rechts bewegt und vor mir der See auftaucht - ohne Vorwarnung, einem Theatervorhang gleich, der plötzlich aufgeht und die komplette Szenerie des Genfer Sees freigibt. Dieser See, "Lac Léman". Riesig. Davor die Weinberge auf meiner Südseite.Auf der andern Seite das Panorama verschneiter Berggipfel.
Laufen will ich. Am See entlang. Deshalb nehme ich direkt die Metro runter nach Ouchy. Dort geht’s los, am Hotel d’Ouchy, hinter dem sich ein Seeschwimmbad befindet. Mir fällt ein Mann mit weissem Woll-Pullover auf, der zu diesem See-Idyll passt. Er geht auf den Steg, um Schwäne zu fotografieren. Er weiss es, ich weiss es, die Menschen hier um uns rum wissen es: Die Sonne wird bald den Winter vertreiben. Sie muntert uns auf: Haltet durch! Bald wärme ich Euch richtig!
Vorbei an der Segelschule geht mein Uferspaziergang. Ein Schild vor einem der Häuschen mit baunen Plastiktischen und -stühlen davor gibt an „Ouvert à tous: Bienvenue chez Nicolas et Frédérique“. Hier will ich gerne am Nachmittag in der Sonne zum Apero sitzen.
Weiter an Beachvolleyballplätzen, wo ein Mann bereits oben ohne spielt, an Tennisplätzen, an unzähligen Bänken, Holzstämmen und Verweilmöglichkeiten vorbei, an Cafés, Spielplätzen und Schwimmbädern, über asphaltierten Weg oder über Sand und Steine, es wechselt ab und geht sich stetig bis hin nach Saint Sulpice. Dort fordern zur Rechten grosszügige Neubauten mit riesigen Balkonen und modernem Gartenmobiliar zu einem leichten Seufzer auf, oder auch zu Neid. Zur Linken und somit direkt am See stehen dann aber die stilvollen alten Häuser, die der Phantasie des Betrachters weit mehr Raum geben. Dann breitet sich vor mir eine riesengrosse Wiese an der Uferpromenade von Saint Sulpice aus. Hier Kinder, konzentriert und ruhig im leeren Brunnen stehend, die mit dem Vater eingehend den Brunnenhahn untersuchen. Dort unten das laute Jauchzen der Erwachsenen: Ein Mann und eine Frau hüpfen um die Wette durch die Luft, auf einer Wippe. Wann hat er zuletzt so viel Spass gehabt? Dazwischen all die Hunde mit Herrchen, Kinder auf Rollern und in Kinderwagen mit ihren Eltern. Die Welt ist friedlich hier im Genuss der ersten warmen Sonnenstrahlen. In Vorfreude auf den Frühling.
Es kann so einfach, so banal sein. Ein winzig kleines Stück Glück. Keine Sorgen. Nur der See, die Sonne, die Upferpromenade und diese paar Lebewesen, die ohne nachzudenken, aus purem Instinkt, die Botschaft verstehen und sich wie auch immer mit Energie versorgen: Wie zum Beispiel beim Bestaunen des Windhunds, der sich gerade mit seiner neuen Bekanntschaft, einem viel grösseren, schwarzen Hund ein Wettrennen liefert, dass man mit den Augen fast nicht mitkommt.
Ich brauche Zeit, bis mir bewusst wird, wie schön es ist. Zunächst empfinde ich es als banal, wie langweilig von mir, einfach am See entlangzugehen. Nichts Spannendes passiert. Erst auf dem Rückweg, als es voller und damit lebhafter wird, nimmt es langsam von mir Besitz, dieses Gefühl ruhiger Freude.
Nach dem zwar sonnigen, aber diesigen Wetter des frühen Nachmittags wird das Licht jetzt klarer. Ich fotografiere alles grad nochmal, diesmal halt von der anderen Seite – und in besserem Licht. Leise und fast unbewusst bemächtigt sich meiner diese Freude. Ja, es ist wirklich schön hier. Keine spannenden Geschichten sind zu erzählen. Und doch - wie viele Tausend Geschichten verbergen sich hier? Wer sind die Paare, die da vor mir gehen? Oft passen sie schon rein optisch zusammen, sind sie glücklich? Und die stolzen Eltern mit den kleinen Kindern? Ist das das Glück? Wie ist es für die Väter, die auf des Filius erste Roller-Versuche acht geben? Ahnen sie, wie schnell die Jahre vorbeigehen werden? Dort vorne laufen sie, die rüstigen Rentner, teils allein, teils mit Partner, oder auch mit Tochter und Enkelkind. Am Ende ist hier das Leben vereint, wenigstens die guten Seiten davon - an diesem Samstagnachmittag entlang der Uferpromenade von Lausanne.
Ich kehre ein, wie geplant, zu meinem Apero bei Nicolas und Frédérique. Ein Glas Weisswein für drei Franken fünfzig. Da sitze ich gerne auf dem Plastikstuhl in der Sonne, höre Nicolas zu, wie er sich mit den Frauen am Nachbartisch unterhält, ich blinzle in die Spätnachmittagssonne und blicke auf die breite Promenade, hinter der die Segelboote noch im Winterschlaf liegen und lautlos schunkeln. Morgen solle es wärmer werden, meint Nicolas. Sei’s drum, ich bin froh, dass man’s heute schon in der Sonne draussen aushalten kann.
Kurz vor Ouchy entscheide ich mich für einen kleinen Umweg, um weiter am Wasser entlang zu gehen. Der Weg führt mich auf die Kaimauer. Zu meiner Linken mit Blick auf Lausanne sind grosse Ausflugsboote verankert. Zu meiner Rechten der See ... der sich anfühlt wie das Meer. Ruhe überkommt mich, ohne dass ich an diesem Tag je unruhig gewesen wäre. Die Sonne wirft ihre letzten Strahlen aufs Wasser. Ein goldener, glitzernder Weg führt von ihr über den See und geradewegs hin zu mir. Wohin führen sie, diese Strahlen, wo enden sie? Wie kann es sein, dass diese Sonne jetzt hier untergeht und morgen früh woanders aufgehen wird? Dass sie jeden Tag aufs Neue und überall auf der Welt auf- und untergeht? Dass wir sie begrüssen und uns nach ihr richten? Strahlen, die übers Wasser zur Sonne wandern und sich auflösen. Die Endlichkeit im Unendlichen wird mir bewusst, und auch das Wunder. Auf dieser Kaimauer von Lausanne.
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