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Singende Weiber in der Gessnerallee

„Weiber“ heisst das vierte Stück, das ich mir heute Abend in der Gessnerallee 11 anschaue. Die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) veranstaltet ein „Theater in allen Räumen“ Wochenende, zu dem ich mich an meinem freien Freitag pünktlich und entspannt um 18 Uhr einfinde.  

Die Gessnerallee 11 ist mir vertraut und lieb geworden im letzten Jahr, weil ich hier meinen Kurs „Stimmbildung/Sprechen“ an eben jener ZHdK absolviert habe. Der Kurs ging über mehrere Wochenenden und hat mir sowie der gesamten Gruppe von 15 Leuten so viel Spass gemacht. Mitte November hat er genau hier, auf Probebühne 2, seinen Höhepunkt und Abschluss gefunden. Von den drei grandiosen Dozierenden Irmela Beyer, Tillmann Braun und Oliver Mannel in drei Ensembles eingeteilt, standen wir selbst da unten auf der Bühne und haben vorgetragen, geschauspielert, gesungen oder vorgelesen. Für mich war es ein sehr besonderer Abend und ich komme nur zu gerne heute Abend an den Ort des Geschehens zurück.

 

Kaum betrete ich die kalte Eingangshalle, sehe ich auch schon Tillmann die Treppe runterkommen und freue mich, dass er mich noch kennt. Und da ist auch Oliver und empfiehlt mir gleich ein Stück, das Tillmann betreut: Iphigenie auf Tauris. Szenenstudium Klassiker.

 

Natürlich fällt es mir sofort auf – wie jung die Schauspieler sind! So schön, so frisch und hingebungsvoll. Später erfahre ich, dass es Studierende des 3. Semesters sind und dass Tillmann gerne mehr Zeit zum Proben gehabt hätte. Aber was hat er diesen jungen Leuten da wieder beigebracht! Die griechische Mythologie nach Goethe. Es ist ein Genuss, den jungen Schauspielern zuzusehen, wenn auch, ich muss es zugeben, ein wenig Wehmut bei mir mitschwingt.

 

Ich gönne mir stündlich ein kurzes Theaterstück. Zwischendurch irgendwo rumsitzen und das nächste Stück aussuchen. Schnell verschwinde ich noch in die Rio-Bar, um die vorher verlorene Mütze dankbar wiederzufinden und ein Glas Wein zu trinken. Dann wieder rein ins frohe, ungezwungene und muntere Treiben in der Gessnerallee. Hier laufen Schauspieler rum, dort Freunde und Angehörige, alles ist ständig in Bewegung, weil stündlich und räumlich was Neues aufgeführt wird. Welch supercooler Abend!

 

Und jetzt singen sie vor mir – die „Weiber“. Eine davon kann eigentlich gar nicht singen, aber das gehört zur Unterhaltung dazu. Drei Frauen treten auf, eine begleitet am Klavier. Thema? Die Liebe natürlich. Und im Besonderen die unglückliche Liebe. Es ist zum Schiessen. Sie klagen einander ihr Leid - mit grossem Charme. Sie erzählen und zeigen wie sie verführen, wie sie gefallen wollen, wie glücklich sie sind und wie sie abblitzen oder ausgetauscht werden. Ich hätte so gerne die Liedertexte! Erinnern kann ich mich nur noch an „Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann“. Zwanziger Jahre hatte ich getippt, de facto aber ein Hit der 60er. Die Mädels tragen ihre Songs mit einer Selbstverständlichkeit und Freude vor, dass es eine wahre Lust ist. Das Publikum johlt. Nicht nur ich.

 

Die Gessnerallee ist mein klarer Gewinner heute gegenüber der Europaallee. Zur Europaalle hatte es mich am Nachmittag aus Neugierde gezogen: neues Quartier am Bahnhof, eine Seite ist noch eine komplette Baustelle. Sportläden, Sportläden, Sportläden, Sihlpost, Restaurants, Banken, Google, Leonteq. Ein paar Geschäfte.

 

Es gab ein Highlight – den wunderbaren Laden der Schneiderin Eva Bräutigam in der Lagerstrasse 96. Der riesengrosse Raum ist komplett verglast nach einer Seite, so dass man ins Nähatelier schauen kann. Blick auf abgesteckte Anzüge, Massanfertigungen, Stoffe, Tische voller Arbeit. Und mittendrin eine schöne junge Frau mit Massband um den Hals. Ich trete ein und frage, ob ich Fotos vom Atelier machen dürfe.

 

Vor mir steht Eva Bräutigam selbst. Sie sei eine von nur noch drei Mass-Schneiderinnen in Zürich (oder der Schweiz?). Welch eine sympathische Frau, wie sie da vor mir steht, freundlich Auskunft gibt und mich bereitwillig fotografieren lässt. Vor uns der abgesteckte Stoff für ein Jackett – da nehme sie die Ärmel gleich mit in den Zug, um dort weiterzunähen, verrät sie. Für den Laden hat sie sich mit einem Konzept bewerben müssen. Und wunderschöne Möbel hat sie übrigens auch noch dort stehen, teilweise selbst restauriert - Handwerkerin und Künstlerin halt. Ich wünsche Eva Bräutigam von Herzen weiterhin viel Erfolg! 

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